Eine Gesangstechnik für alles? Klassisch versus Populargesang

Bernadette & Friends29. September 2022
Zwei Treppen in unterschiedlichen Farben - das Bild steht symbolisch für den Vergleich der Gesangstechnik Pop versus Klassik

Von Zeit zu Zeit kommen Gesangsschüler mit klassischer Vorerfahrung in mein Gesangsstudio. Sie hatten zuvor klassischen Gesangsunterricht genommen, möchten aber eigentlich kein klassisches Repertoire, sondern Rock- oder Popsongs singen. Dabei haben sie festgestellt, dass sie die Songs mit ihrer klassischen Gesangstechnik nicht singen können. Ihr stimmlicher „Sound“ passt nicht dazu. Wie kommt das? Und gibt es eine nicht-klassische Gesangstechnik, die den Rock/Pop-Bereich abdeckt?

Nicht wenige Gesangslehrer vertreten die Überzeugung, mit der klassischen Gesangstechnik könne man alle Musikstile singen. Sie geht auf eine lange Tradition komponierter Musik zurück, die bewundernswerte Stimm-Virtuosen hervorgebracht hat. Die „Heldentenöre“ oder „Koloratursoprane“ verschlagen uns noch im heutigen Konzertleben den Atem. Wenn man in einer klassischen Gesangsausbildung gelernt hat, so zu singen, kann man dann nicht alles singen? „One size fits all“? So beeindruckend das ist – Nein. Werfen wir einen Blick in die Musikgeschichte, um zu verstehen, warum.

Kennzeichen des klassischen Gesangs

Was als „klassischer Gesang“ gilt, verdankt sich vor allem der Tradition des gesungenen musikalischen Dramas, der Oper. Solistisches Kernstück der Oper war schon seit der Zeit des italienischen Komponisten Monteverdi, Anfang des 17. Jahrhunderts, die Arie. In einer Arie musste der Solist in der Lage sein, über das ganze Orchester hinweg zu singen. 

Neben der Lautstärke ist es wichtig, dass der Solist klangschön sowie textverständlich singt. Das stellte hohe stimmliche Anforderungen an den Sänger. Daraus ging der „bel canto“, die Kunst des schönen Singens hervor, die bis ins 19. Jahrhundert hinein gelehrt wurde. Es gibt Zweifel daran, dass der Belcanto je eine einheitliche „Technik“ war. Doch es gibt einige allgemeine Kennzeichen des Belcanto-Gesangs.

Typische Kennzeichen:

  • die Resonanz der Stimme, wichtig für ihre Tragfähigkeit über das Orchester hinweg, 
  • Einheit der Stimmregister d. h. der unhörbare Übergang zwischen Kopf- und Bruststimme, 
  • Dynamik d. h. der Übergang zwischen Laut und Leise ohne hörbaren Wechsel der Tonqualität, 
  • Stütze und Halten langer Töne oder Phrasen, 
  • Ton-Verzierungen wie Triller und Vibrato. 

Nach dem italienischen Belcanto entstanden später andere einflussreiche klassische Gesangstraditionen. Die französische Oper hat eine lange Tradition sowie auch die deutsche Oper. Wagners berühmte Musikdramen haben wir noch heute im Ohr. Der Gesang aus der deutschen Operntradition unterscheidet sich von dem italienischen Belcanto. Hier gibt es eine zusätzliche Dunkelfärbung des Tons: Durch eine ausgeprägte Tiefstellung des Kehlkopfs bekommen die gesungenen Vokale zusätzlichen Raum. Sie klingen somit voller und dunkler.

Im deutschen Kunstlied hingegen wurde weiter die hellere Tonklangfarbe ohne Kehlkopf-Tiefstellung kultiviert. Das hört man zum Beispiel in Vertonungen von Franz Schuberts „Lindenbaum“. Wir sehen: Der Gesang aus der europäischen klassischen Tradition bietet kein ganz einheitliches (Klang-) Bild. Dennoch ist der italienische Belcanto im Rückblick zum Inbegriff des „klassischen Gesangs“ geworden. Die Tiefstellung des Kehlkopfs wird oft um die sogenannte „Gähnstellung“ beim Singen erweitert.

Vom „Belter“ zum modernen Populargesang

Vom klassischen Gesang aus dem alten Europa führt der Weg zum modernen Populargesang weiter über die USA. Als noch ohne Mikrofone gesungen wurde, gab es in den Konzerthallen und Musiktheatern der USA zwei Arten von Sängern. Erstens: Klassische Sänger, auch „legit singers“ genannt, die eine klassische Gesangsausbildung mitbrachten. Und zweitens: Die „belter“. Sie gebrauchten ihre Stimme nach Art des kraftvollen Sprechens oder Rufens wie bei einer offizieller Bekanntmachung auf dem Marktplatz. Das „Belten“ als Singen in hoher Lage mit Sprechstimm-Qualität ist später in die Popularmusik eingegangen. 

In den 1930er und 40er Jahren setzte sich die elektrische Verstärkung der Musik durch. Nun war es für Sängerinnen und Sänger nicht mehr nötig, rein akustisch mit ihrer Stimme die Konzerträume zu füllen. Mit Mikrofon erreichten auch sanfte, intimere Töne über das Orchester oder die Band hinweg das Ohr des Publikums. Der Rundfunk trug den Gesang noch weiter – bis in die Wohnzimmer der Hörer. So konnte sich neben den klassischen Sängern und Beltern ein dritter Typus von Vokalist durchsetzen. Der sogenannte „crooner“. Er wird im Deutschen durchaus sinngemäß (ebenfalls etwas abwertend) „Schnulzensänger“ genannt. Der junge Frank Sinatra z. B. war einer der frühen Crooner.

In den 1950er Jahren trat dann der Rock ‚n‘ Roll auf den Plan. Er brachte in den folgenden Jahrzehnten eine Vielfalt von Stilen und Genres hervor. Heute fasst man diese unter dem allgemeinen Label „Popularmusik“ zusammen. (Im Englischen „contemporary commercial music“, kurz CCM). Seitdem hören wir eine nie dagewesene Bandbreite stimmlicher Sounds. Diese reicht vom Hauchen in Balladen bis zu Schrei-Techniken im Heavy Metal. Doch trotz dieser Vielfalt von Sounds gibt es einen charakteristischen Unterschied zwischen Popular- und Klassikgesang. Beim Gesang im Rock/Pop-Spektrum ist eine helle, nach vorn gerichtete Tonqualität typisch. Anders als beim klassischen Gesang orientiert sich der Klang an der Sprechstimme.

Ein neuer Sound

Das zeigt sich schon äußerlich: Klassische Sänger singen stets mit ovalem, vertikal geöffneten Mündern. Rock- oder Popsängerinnen öffnen ihre Vokale horizontal, also in die Breite. Die sogenannte „Breitenspannung“ gibt den Vokalen ebenfalls mehr Raum, aber anders als im klassischen Gesang wird die Klangfärbung so heller statt dunkler. Viele Rock/Pop-Sängerinnen und -Sänger verbinden diese Öffnung in die Breite noch mit dem tonschärfenden „Twang“, einer Verengung im Kehlkopfbereich. So erzeugen sie mehr Resonanz für die Tragfähigkeit ihrer Stimmen anstatt in den „klassischen“ Sound zu fallen. Denn dieser Klang passt nicht zu ihrer Musik.

Sieh Dir nun ein Beispiel dafür an, aus dem Musical-Bereich: Idina Menzel mit dem Titel „Defying Gravity“. Die Dramaturgie ihrer Interpretation des Songs ist für uns sehr aufschlussreich: Während sie im ersten Teil des Songs noch mit weichen Übergängen zwischen Brust- und Kopfstimme wechselt, wie wir es aus dem klassischen Gesang kennen, geht sie danach in einen powervollen „Belt“ über. Sie singt mit voller Stimme in ihrer höchsten Lage, wie bei einem akklamativen Rufen. Und sie nutzt in der Höhe die Breitenspannung, um ihren Stimmklang hell und textverständlich zu halten. Diesen Sound könnte sie mit einer klassischen Gesangstechnik nicht erzielen. Hier ist sie:

Merkmale des Populargesangs 

Wir können nun einige typische Merkmale benennen, die den Populargesang vom klassischen Gesang unterscheiden, wie er weiter oben gekennzeichnet wurde:

  • Die Resonanz der Stimme wird mithilfe des Twangs und der Breitenspannung verstärkt (Schärfe und Hellfärbung des Tons).
  • Der Gesang orientiert sich an der Sprechstimm-Qualität, in hohen Lagen: Belting (Singen mit voller Schwingungsbreite der Stimmbänder).
  • Brust- und Kopfstimme werden oft voneinander getrennt statt klanglich vereint (gewollte stimmliche Brüche oder Kiekser).
  • Für einen intensiveren emotionalen Ausdruck werden auch Beigeräusche in den Gesang gemischt oder Schrei-Techniken angewendet. Hauch, Vocal Fry (Knarren) oder Rauigkeit des Tons sind dafür Beispiele.
  • Nur selten oder gar kein Vibrato-Einsatz (gerade Töne).

Diese Merkmale des Populargesangs lassen uns besser verstehen, warum klassischer Gesangsunterricht tatsächlich nicht für alle Musikstile geeignet ist. Die für den Gesang im Rock & Pop so typische Vokalöffnung in die Breite, Twang, Belten, Tonansätze, die vom Hauch über den „vocal fry“ bis zum „growl“ gehen, Spezialtechniken wie Schreien: Das alles sind Technikern, die in der klassischen Gesangsausbildung nicht unterrichtet werden – sie werden für die Interpretation klassischer Werke ja auch nicht gebraucht. Die gute Nachricht ist, sie sind Bestandteile einer nicht-klassischen Gesangstechnik, die heute weithin etabliert ist. Diese Technik wird von Profis in aller Welt unterrichtet. Um das alte Wort aus den 1930er Jahren aufzugreifen: Neben der klassischen Gesangstechnik kann mittlerweile auch die Popular- oder CCM-Gesangstechnik die Bezeichnung „legit singing“ für sich beanspruchen. 

Doch es gibt auch Gemeinsamkeiten

Bei allen Unterschieden gibt es natürlich auch Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel profitiert die Popular-Gesangstechnik von vielen Techniken und Übungen aus der klassischen Tradition. Das gilt für die Atem- und Stützmuskulatur, Registerübergänge, Artikulation (Konsonanten) und vieles mehr. Auch stilistische Überschneidungen kommen vor, klassisch ausgebildete Sängerinnen und Sänger, die Popsongs singen und damit auch erfolgreich sind. Ein Beispiel dafür ist die Mezzo-Sopranistin Ann-Sofie von Otter mit dem Titel „This House Is Empty Now“. Elvis Costello singt im Original mit hellen, geraden Tönen, die für den Populargesang typisch sind. Doch bei Ann-Sofie von Otter hören wir eine leicht abgedunkelte Tonfärbung und viel Kopfstimme:

Das ist fraglos eine gekonnte Interpretation, und wunderschön für jeden, der die klassische Tonästhetik mag. Gesangsinteressenten, die in klassischer Klangästhetik singen möchten, verweise ich deshalb an geschätzte Kollegen, die in der klassischen Gesangspädagogik unterrichten. In Opern- und Konzerthäusern, im Musiktheater oder im Musical gibt es nach wie vor Bedarf an klassisch ausgebildeten Stimmen.

Werkzeuge versus eine Gesangstechnik für alles

Eine Frage ist noch offen geblieben: Kann man denn mit der Popular-Gesangstechnik alle Stile gleichermaßen singen: Jazz, Heavy Metal, Soul, Folk, Rhythm & Blues, Mainstream-Pop, Musical, Independent, Country etc.? Du kannst Dir schon denken: Das „one size fits all“-Prinzip weckt auch hier falsche Erwartungen! Die Genre-typischen Gesangsweisen im weiten Feld der Rock/Pop-Musik sind sehr unterschiedlich. Der Unterricht in Popular-Gesangstechnik ist kein einheitlicher stimmlicher Ausbildungsgang, mit dem man die Fähigkeit erwirbt, alles zu singen, was es gibt im Rock-Pop-Bereich.

Stell es Dir lieber so vor: Popular-Gesangsunterricht zeigt Dir die Tools, die Du brauchst, um den Stil Deiner Wahl in einer technisch abgesicherten, stimmlich gesunden Weise zu singen. Techniken wie Vocal Fry, Belten usw. sind Werkzeuge, mit denen Du die speziellen Stimmeffekte Deines Genres sicher erzielen lernst. Im Popular-Gesangsstudio steht gleichsam der Werkzeugkasten, und mit der fachkundigen Einweisung in den Gebrauch der richtigen Werkzeuge geht es schon los … und du bist mittendrin in einem spannenden Prozess der Entwicklung Deines ganz eigenen gesanglichen Ausdrucks – mit einem Sound, der zu Deinem Musikgenre passt.

In meinen Online-Gesangskursen lernst Du wichtige Tools für den Aufbau Deiner Stimme kennen. Schau gerne bei meinen Online-Gesangskursen rein!

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