Es war der Abend, der als „Singende Revolution“ in die Geschichte eingehen sollte. Zwei Millionen Menschen, Männer und Frauen, Kinder und Alte, reichten sich die Hände. Sie bildeten eine Menschenkette, die sich über drei Staaten hinweg erstreckte: von der Nordküste Estlands bis in den Süden Litauens. Dann fingen sie an zu singen, vom Abend bis spät in die Nacht.
Die verbindende Kraft des Singens
Es war das Jahr 1989. Die Menschen sangen ihre alten, verbotenen Volkslieder. Seit 50 Jahren waren die Baltischen Staaten von Russland besetzt, der damaligen Sowjetunion. Doch wie sich zeigte, war der Gesang der baltischen Völker stärker als die Panzer, die kurz darauf von Moskau geschickt wurden. Die „Singende Revolution“ blieb friedlich und führte 1990/91 zur Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten.
Wenige Jahre zuvor gab es schon eine Revolution auf den Philippinen, die mit dem Sturz des Marco-Regimes endete. Nicht ein einziger Schuss soll dabei gefallen sein, und wieder spielte das Singen eine besondere Rolle dabei. Singen hat eine verbindende Kraft, die sogar Mächtigen gefährlich werden kann.
Am Anfang von Sinn und Kommunikation
Woher kommt diese Kraft, und wie nutzen wir sie? Singen weckt etwas in uns, das tief in unserer Existenz verwurzelt ist. Könntest Du direkt in Deine Lebenszeit zurückblicken, würdest Du sehen: Der Anfang Deines sozialen Lebens war musikalisch.
Deine allererste Kommunikation, bis zu einem halben Jahr nach Deiner Geburt, war eine Art vorsprachlicher Austausch in Tönen, mit Harmonien und rhythmischem Timing. Das ist doch „Singen“, möchte man spontan sagen. Genauer gesagt, ist es eine Vorform des Singens, noch vor jeder Unterscheidbarkeit zwischen Musik und Sprache, aber schon mit musikalischen Merkmalen.
Harmonische Vokalisierung
Akustische Untersuchungen zeigen, dass Mutter und Säugling bei ihrem ersten Austausch von Stimmlauten immer wieder in harmonischen Tonabständen zusammenkommen, nach den Gesetzen der Obertonreihe. Hier siehst Du die Obertöne, die über jedem Grundton klingen, und wie sie eine Reihung in Harmonien bilden: Oktave, Quinte, Quarte, Terz …
Diese harmonische Vokalisierung geschieht vor allem in Momenten, in denen Mutter und Kind spielerisch ihre Beziehung zueinander regeln – eine Art „social negotiation“ ohne Worte. In diesen Momenten tonaler Harmonie sind Mutter und Kind auch in ihren körperlichen Rhythmen eng aufeinander abgestimmt, zum Beispiel in der Veränderung ihrer Herzschlagfrequenz. Und, geradezu sensationell: Das rhythmische Timing dieser vorsprachlichen Kommunikation ähnelt dem Timing in einer Jazz-Improvisation.
Lebensbegleitend bis zum Ende
Viel spricht dafür, dass diese früheste, musikalische Vokalisierung noch im Säuglingsalter der Anfang von allem ist: der Anfang von Bedeutung und Beziehung, und Voraussetzung für unsere späteren kommunikativen und sozialen Fähigkeiten. Wenn wir in späteren Jahren singen, knüpfen wir gewissermaßen wieder an diese früheste Verbundenheit in unserem Leben an.
Es überrascht daher nicht, dass viele Studien zeigen, wie Menschen beim gemeinsamen Singen ein starkes Gemeinschaftsgefühl aufbauen, bis zur Synchronisation ihrer Körperrhythmen. Für viele wird diese Erfahrung einer Zugehörigkeit, die über das eigene Dasein hinausgeht, zu einer spirituellen Erfahrung. Besonders geeignete Orte für diese Erfahrung von Verbundenheit und Sinn sind Ensembles oder Chöre – dort, wo man beim Singen buchstäblich anderen die Hand reicht, so wie die Balten in der „Singenden Revolution“.
Singen ist eine der ersten Lebensäußerungen und begleitet unser Leben noch lange danach. Für viele alte Menschen ist das Singen auch das Letzte, was Leben zurückbringt. Wenn alles längst vergessen ist und statt Sprache nur noch unartikulierte Laute bleiben, reicht manchmal schon ein altes Lied. Plötzlich ist alle Verlorenheit weg, die Gesichter von Menschen mit Altersdemenz hellen sich auf, sie nehmen ihre Umgebung wieder wahr und singen mit, bis zum Ende.
Es sind magische Momente, wie die ersten Stimmlaute eines Säuglings in musikalischem Einvernehmen mit seiner Mutter. Gemeinsames Singen belebt, schafft Erinnerung und Sinn, verbindet – und es macht glücklich. Möchtest Du diese Magie in Dein Leben bringen? Dann ist unser Tipp: Trete einem Chor bei.
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